ABL – ein Leukämie-Gen im neuen Kontext
Diese Woche hab ich mich wieder mal für einen Gen-Klassiker entschieden. Allerdings für einen, der gerade erst in einem neuen Zusammenhang beschrieben wurde. Der bereits gut etablierte Zusammenhang dieses Gens mit einer besonderen Form der Leukämie führt uns zunächst zurück in die frühen 1960er Jahre. Denn es war während dieser medizinisch spannenden Jahre, in denen auch beispielsweise die Pille ihren revolutionären Einzug hielt, dass zum ersten Mal ein merkwürdig aussehendes Chromosom in Zusammenhang gebracht wurde mit einer schweren Form der Leukämie, der chronischen Myelose. Nach dem Ort der ersten Entdeckung dieses sonderbaren Chromosoms wurde es Philadelphia-Chromosom genannt.
Erst 1973 gelang es Forschern aufzuklären, wie dieses atypische Chromosom zustande kommt: es handelt sich um eine sogenannte Translokation, bei der ein Stück des kurzen Arms von Chromosom 9 mit einem Teil des langen Arms von Chromosom 22 die Plätze tauscht (siehe Bild).
Um zu verstehen, wie diese Translokation Leukämie hervorrufen kann, wurde der Bereich an der Bruchstelle beider Chromosomen näher untersucht. Der Bereich auf dem Chromosom 22 wurde aus pragmatischen Gründen einfach breakpoint cluster region (BCR) genannt. Das Genprodukt welches normalerweise von dieser Sequenz codiert wird ist von so untergeordneter Bedeutung dass ich mir weitere Ausführungen spare. Das Gen, das auf dem Chromosom 9 genau in dem Bereich liegt, der nach der Translokation an der BCR des Chromosom 22 liegt, trägt den eher sperrigen Namen Abelson murine leukemia viral oncogene homolog 1, oder kurz ABL1. ABL1 ist eine sogenannte Tyrosinkinase: das ist ein Protein, das Phosphatgruppen an andere Proteine anhängen kann.
Für die Zelle sind diese speziellen Phoshatgruppen ein Signal für die Einleitung von Zellteilungen. Daher wird die Expression, also das Ablesen von ABL1 streng kontrolliert und erfolgt in aller Regel nur dort, wo eine derartige Teilung wünschenswert ist. Durch die Translokation zwischen Chromosom 9 und 22 entsteht allerdings ein neues Gen, welches aus Fusion der beiden Bereiche an den Bruchstellen entsteht und daher BCR-ABL genannt wird. Dadurch entzieht sich ABL1 der Kontrolle, der es auf dem Chromosom 9 normalerweise unterlegen ist und wird dauerhaft abgelesen. Es entsendet also ständig das Signal zur Zellteilung, was in den meisten Geweben eines erwachsenen Organismus fatal ist. Weiße Blutkörperchen reagieren besonders stark auf dieses Signal, was dazu führt, dass sie sich unkontrolliert teilen. Tatsächlich liegt über 95% der chronischen Myelosen (auch chronic myeloid Leukemia, oder CML) ein solches Philadelphia-Chromosom zugrunde.
Proteinkinase-Inhibitoren – eine Erfolgsgeschichte der Pharmaindustrie
Im Dunstkreis der Pharmaindustrie gibt es viele richtig üble Geschichten. Allerdings lassen sich auch etliche erhebliche medizinische Fortschritte nicht bestreiten, die durch die Pharmariesen in Gang gebracht wurden. Die Geschichte der Proteinkinase-Inhibitoren ist eine derartige Erfolgsstory. Bis in die 1990er Jahre waren die Therapieansätze gegen CML ziemlich umzulänglich. Neben einer Interferon-Therapie, die zu dem Preis schwerster Nebenwirkungen meist nur eine geringe Lebensverlängerung bewirkte, gab es nur die Möglichkeit einer Knochenmarkstransplatation. Diese war allerdings mit einer eher bescheidenen Erfolgsrate und hoher Sterblichkeit verbunden.
Da bereits seit etlichen Jahren klar war, dass es einzig das BCR-ABL-Protein ist, dass die Krankheit auslöst, wurde in den späten 1980er Jahren intensiv nach Stoffen gesucht, die gezielt die Aktivität dieser Kinase hemmen. In den 1990er Jahren war es soweit und Forscher bei Ciba-Geigy (später Novartis) hatten ein kleines Molekül entdeckt, das sich direkt in das aktive Zentrum des BCR-ABL-Proteins (und nur dort!) einlagert und die Aktivität der Kinase hemmt (siehe Bild). 1998 schließlich wurden die ersten klinischen Studien durchgeführt und nur 3 Jahre später, nach einem verhältnismäßig extrem kurzen Zeitraum, wurde Imatinib (vertrieben unter dem Namen Gleevec) 2001 von der Food and Drug Administration zugelassen. Dies führte bei nicht weniger als etwa 90% der Patienten zu einer Remission. Bis heute lassen sich die meisten Fälle von CML sehr gut mit diesem kleinen Molekül behandeln.
Eine ganz andere Rolle für ABL
Letzte Woche nun gab es Neuigkeiten über ABL. Allerdings haben diese nichts mit Leukämien zu tun. Forscher am Baylor College of Medicine in Houston haben einige Patienten mit angeborenen Herzfehlern, Skelettfehlbildungen und Entwicklungsverzögerungen genetisch näher beleuchtet. Die meisten Patienten dieser Art wären wohl fälschlicherweise mit Marfan-Syndrome diagnostiziert worden. Diesem Syndrom liegt allerdings eine ganz andere Mutation zugrunde. Tatsächlich fanden die Forscher eine Mutation in ABL1, die die Aktivität der Tyrosinkinase erhöht. Und nun kommt der Satz, mit dem ich etliche meiner Artikel abschließen muss: der Mechanismus, der der Tatsache zugrunde liegt, dass in diesem Fall durch zu hohe ABL-Aktivität eine Entwicklungsstörung und keine Leukämie ausgelöst wird, den kennen wir noch nicht.