BSX – etliche Jahre meines Lebens und eine Doktorarbeit

Leute, die mich persönlich gut kennen, Freunde, Familie, Arbeitskollegen, mein Chef, haben mich immer wieder ungläubig angesehen. „Was? Es gibt keinen Gen der Woche Artikel zu Bsx???“ Sie staunen, weil Bsx das Gen ist, das mich über etliche Jahre begleitet, manchmal auch eher verfolgt, hat. Auch wenn das ursprünglich überhaupt nicht geplant war, hielt das Bsx Gen tatsächlich so viele bislang noch unentdeckte Funktionen für mich bereit, dass ich mit der Erforschung und Beschreibung dieser Funktionen letztlich den Großteil meiner Doktorarbeit gefüllt habe. Bsx verdanke ich also quasi meinen großartigen Hut! Aber zuerst der Reihe nach.

Die Abkürzung Bsx steht für Brain-specific Homeobox und wie der Name es schon beschreibt, wird das Bsx Gen nur im Gehirn abgelesen und verwendet. Aber was bedeutet „Homeobox“? Die Geschichte dazu ist so einzigartig, dass ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen will, sie euch zu erzählen.

Homöotische Mutationen und der legendäre fly room an der Columbia University

Vor fast 100 Jahren machten Thomas Hunt Morgan und sein Mitarbeiter Calvin Bridges, zwei außergewöhnliche Forscher in ihrem außergewöhnlichen Labor, dem berühmten fly room an der Columbia University, eine erstaunliche Entdeckung. Unter den tausenden Fruchtfliegen, die sie mit viel Geduld und ein wenig Bananbrei züchteten, fanden sie eine sehr merkwürdig aussehende. Statt einem Flügelpaar hatte diese Fliege zwei: das dritte Körpersegment, auf dem eigentlich nur zwei kurze Stummel sitzen sollten, war in seiner ganzen Identität so verändert, dass es einem zusätzlichen zweiten, flügeltragenden, Segment entsprach. Damit beschrieben sie eine erste homöotische Mutation: eine natürliche Variation bei der ein Körperteil die Identität eines anderen annimmt.

Thomas Hunt Morgan (reprinted with kind permission from archives.caltech.edu), Calvin Bridges (reprinted with kind permission from archives.caltech.edu) und Edward Lewis (Caltech yearbook, public domain), sowie eine normale Fliege und eine „Ultrabithorax“ Fliege (image from Rachgo20 for wikimedia.org, CC BY-SA 4.0), bei der das dritte Körpersegment die Identität eines zusätzlichen zweiten (flügeltragenden) Segments angenommen hat.

Erst fünfzig Jahre später, in den 1970er Jahren, beschrieb Edward Lewis, dass das Gen, das in dieser Fliege mutiert ist, zusammen mit anderen besonderen Genen in einem ganz besonderen Cluster angeordnet ist. Diese Gencluster zeichnen sich durch eine Eigenschaft aus, die er Kolinearität nannte: sie werden entlang der Körperachse in genau der zeitlichen und räumlichen Anordnung abgelesen, in der sie auf dem Chromosom angeordnet sind. In den 1980er Jahren schließlich gelang es Walter Gehring und seinem Mitarbeiter Bill McGinnis, etwas über die Struktur dieser so besonderen Gene herauszufinden: sie alle hatten einen sehr ähnlichen Abschnitt gemeinsam, den die Wissenschaftler Homöobox nannten. Diese Homöobox codiert für die sogenannte Homöodomäne, die chemisch so beschaffen ist, dass sie an bestimmte DNA-Sequenzabschnitte bindet. Homöodomänen-Proteine sind also Transkriptionsfaktoren, die die Aktivität vieler weiterer Gene steuern können. Später fand man diese Homöobox auch in etlichen anderen Genen, die keine hox-Gene sind, weil sie nicht in diesen Clustern angeordent sind und nicht die Identität von ganzen Körpersegementen bestimmen können. Alle hox Gene sind also Homöobox Gene, aber nicht alle Homöobox Gene sind auch hox Gene.

Die in Clustern angeordneten Hox Gene codieren Homöodomänen-Transkriptionsfaktoren, die durch die Regulierung von etlichen weiteren Genen die Identität von bestimmten Körpersegmenten festlegen. Hox Gene zeichnen sich durch Kolinearität aus: sie werden sowohl zeitlich, als auch räumlich in genau jener Abfolge aktiviert, wie sie in den Clustern vorliegen. Grafik modifiziert von Hueber SD, Weiller GF, Djordjevic MA, Frickey T (2010) Improving Hox Protein Classification across the Major Model Organisms. PLoS ONE 5(5): e10820. CC BY 4.0.

Nach der Entdeckung der Homöobox gründete Bill McGinnis bald sein eigenes Labor an der UCSD in San Diego. Er blieb den Homöobox Transkriptionsfaktoren treu und beschrieb noch viele von ihnen. Von einem von ihnen fand er 1993, dass das Genprodukt nur in ein paar Nervenzellen im Gehirn der Fliege vorhanden ist. Daher nannte er dieses Gen brain-specific homeobox.

Zehn Jahre später, 2004, beschrieben Forscher in Mailand das Bsx Gen zum ersten Mal in der Maus. Sie fanden dass es nur in ein paar wenigen Teilen des Gehirns verwendet wird, unter ihnen die Zirbeldrüse und der Hypothalamus.

Die sagenumwobene Zirbeldrüse

Die Zirbeldrüse ist eine kleine Struktur im Gehirn, die auf Menschen schon seit langer Zeit eine besondere Faszination ausstrahlt. Der berühmte französische Philosoph René Descartes (1596 – 1650) beispielsweise sah die Zirbeldrüse als Vermittler zwischen dem Körper und dem Geist, zwei für ihn völlig verschiedene Sphären. Bis heute, so kann man sich leicht durch eine google Abfrage zur Zirbeldrüse überzeugen, ist die Zirbeldrüse stark in der Hand von Esoterikern aller Couleur, die beispielsweise durch psychoaktive Substanzen oder aber auch durch bestimmte Bilder und Klänge die Zirbeldrüse „aktivieren“ wollen. Probiert es mal aus, es lohnt sich (das googlen mein ich; nicht die Drogen)!

René Descartes hat sich die Zirbeldrüse als Sitz der Seele vorgestellt. Abbildung von Wellcome Library, London. Wellcome Images images@wellcome.ac.uk http://wellcomeimages.org über wikimedia.org. CC BY 4.0.

Die Zirbeldrüse hat aber nicht nur einen erstaunlichen ideengeschichtlichen Hintergrund, sondern auch eine bemerkenswerte evolutionäre Geschichte. Ursprünglich entstand sie vermutlich als eine Art lichtempfindliches Organ, ähnlich einem Auge, mitten auf dem Kopf. Als sich das Säugetiergehirn jedoch immer weiter faltete, landet sie irgendwann mitten im Gehirn, wo es eher dunkel ist. Dennoch reagiert sie noch auf Licht; die Information darüber kommt über einen neuronalen Schaltkreis aus dem Auge. Wenn kein Licht einfällt, schüttet die Zirbeldrüse Melatonin aus, ein Hormon, dass uns schläfrig macht. Viele von euch wissen vielleicht, dass das Modelltier, an dem ich arbeite, der Zebrafisch ist. Im Fisch sitzt die Zirbeldrüse (noch) unmittelbar unter dem Schädel und ist direkt lichtempfindlich.

Vorexperimente aus unserem Labor hatten darauf hingedeutet, dass Bsx vielleicht wichtig sein könnte für die Entwicklung von Dopamin-produzierenden Nervenzellen. Daher waren wir alle sehr aufgeregt, als mit TALENs eine neue Art von programmierbaren Nukleasen ins Spiel kamen. TALENs funktionieren ganz ähnlich wie das kurz nachdem entwickelte CRISPR/Cas9 System; mit beiden Werkzeuge kann man an einer (fast) beliebigen Stelle im Genom einen Doppelstrangbruch auf der DNA erzeugen. Es war wirklich unglaublich cool zu sehen, wie ich damit tatsächlich im Gen meiner Wahl, Bsx, eine Mutation erzeugen konnte; das war bis dato im Fisch überhaupt nicht möglich gewesen. Leider verflog einiges meiner Euphorie, als ich feststellen musste, dass die Dopamin-produzierenden Nervenzellen in den von mir veränderten Fischen immer noch einwandfrei aussahen. Das Bsx Gen scheint also für die Entwicklung von Dopamin-produzierende Nervenzellen nicht notwendig zu sein.

Ein Neurotransmitter-System, dass Dopamin sehr ähnlich ist, ist das Serotonin-System, und ein Marker für Serotonin-Neuronen war nur einer von vielen Markern die ich ein bisschen desillusioniert in den Fischen ohne funktionierendes Bsx-Gen gefärbt hatte. Ich wollte einfach irgendetwas Verwertbares finden; irgendetwas musste dieses Bsx-Gen doch tun! Ich wusste nicht mal, oder hatte es vergessen, dass Serotonin auch eine direkte Vorstufe zu Melatonin ist, bis ich einen kleinen Fleck im Gehirn meiner Fische gesehen habe, wo der Serotonin-Marker färbte. Aber dieser Fleck war einfach komplett verschwunden in den Fischen ohne funktionsfähiges Bsx. Es sah so aus, also könnten diese Fische kein Melatonin produzieren!

Bsx in der Zirbeldrüse

Auf einmal war mein Motivationstief Geschichte und es folgte etwa ein Jahr, in dem ich so viel ich konnte über die Zirbeldrüse gelesen habe und diese faszinierende kleine Struktur in meinen Fischen mit kaputtem Bsx Gen von allen Seiten genau untersucht hab. Meine Laborkollegen und mein Chef stöhnten in Meetings immer häufiger auf. „Ohje, sie redet schon wieder über diese Zirbeldrüse“.

Im Zebrafisch, so fand ich schnell durch Literaturrecherche heraus, ist die Zirbeldrüse noch in einer anderen Hinsicht interessant und sehr gut untersucht. In der Embryonalentwicklung entstehen hier ein paar Zellen, die in weiterer Folge der Entwicklung nach links wandern; immer nach links! Dort bilden sie eine kleine Struktur, Parapinealorgan genannt. Dass dieses kleine Organ entsteht, ist notwendig dafür, dass sich die umliegenden Hirnbereiche, die Habenulae, asymmetrisch ausbilden. Denn auch der Zebrafisch hat, wie wir, natürlicherweise ein asymmetrisches Gehirn. Ich war fasziniert und konnte es kaum erwarten, diese Zellen in meinen Fischen zu entdecken und tatsächlich fand ich sie – nicht! In den bsx mutanten Fischen fehlten sie einfach und in Folge entwickelte sich deren Gehirn auch völlig symmetrisch.

Im Zebrafish sitzt die lichtempfindliche Zirbeldrüse direkt unter dem Schädel. Bei Dunkelheit schüttet sie Melatonin aus. Die Entwicklung des Parapinealorgans, links neben der Zirbeldrüse ist wichtig, damit sich die beiden Gehirnhälften asymmetrisch entwickeln.

Als ich all das zu einem Manuskript zusammenführte und zur Publikation in einer anerkannten Fachzeitschrift einreichte, war ich sehr nervös. Ich fühlte mich irgendwie als Eindringling in ein Feld, dass ich vor gut einem Jahr noch überhaupt nicht kannte. Als die Gutachten dazu dann generell relativ positiv ausfielen war ich umso glücklicher. Die Beschreibung all dieser Funktionen des Bsx Transkriptionsfaktors in der Zirbeldrüse wurde mein erstes Paper.

Bsx im Hypothalamus

Was die Literatur zu Bsx angeht, gibt es vor allem eine Funktion dieses Gens, die bereits vor Jahren gut beschrieben wurde. Durch Studien an Mäusen, denen der Bsx Transkriptionsfaktor fehlt, wurde herausgefunden, dass Bsx die Aktivität von zwei Faktoren reguliert: Agouti-related Peptide (Agrp) und Neuropeptide Y (Npy). Agrp und Npy sind sogenannte orexigene Faktoren; sie werden durch Hormone, die vom leeren Magen ausgeschüttet werden, hochreguliert und tragen dazu bei, dass sich der Organismus vermehrt mit Nahrungssuche auseinandersetzt. Kurz gesagt: Agrp und Npy führen zum Gefühl von Hunger und Appetit. Die Neuronen, die diese Schaltstelle darstellen, zwischen den Hungerhormonen aus dem Magen und den sogenannten „higher order“-Neuronen, die zu Nahrungssuche und -aufnahme führen, sitzen im Nucleus Arcuatus, einem kleinen Kerngebiet, das zum Hypothalamus gehört.

Bislang war über das Bsx Gen/Protein fast nur bekannt, dass es in einem kleinen Teil des Hypothalamus, dem Nukleus Arcuatus, die appetit-anregend wirkenden Faktoren Agrp und Npy aktiviert.

Bsx ist aber in einem viel größeren Bereich des Hypothalamus aktiv, das weit über den Nucleus Arcuatus hinausreicht. Was macht Bsx dort? Diese Frage hatte bislang noch niemand beantwortet. Im Laufe der Jahre bin ich aber tatsächlich über ein paar Faktoren gestolpert, die im Hypothalamus von bsx Mutanten Fischen nicht ganz richtig entwickelt zu sein scheinen. Dabei tauchte aber ein neues Hindernis auf.

Neuroanatomie, wer hätte das gedacht…

Wenn wir Genfunktionen am Zebrafisch beschreiben, dann wollen wir in aller Regel Aussagen machen, die auch in Säugetieren und damit auch in uns Menschen Gültigkeit haben. Da die genetische Aussattung des Fisches der unseren ziemlich ähnlich ist, klappt das meistens ganz gut; d.h. viele Genfunktionen sind im Laufe der Evolution die gleichen geblieben. Diesmal war aber nicht mein Problem, die Gene des Fisches mit denen von Mäusen oder Menschen zu vergleichen, sondern eher die Gehirnregionen, in denen ich etwas gefunden hatte. Der Hypothalamus eines Fisches sieht eben einfach doch etwas anders aus und obwohl der Zebrafisch mittlerweile ein so beliebtes Modelltier geworden ist, scheint sich überraschenderweise noch niemand gründlich damit auseinandergesetzt zu haben, welche Bereiche des Fisch-Hypothalamus welchen Teilen des Säuger-Hypothalamus entsprechen könnten. Ich habe daher angefangen ein paar Färbungen zu machen mit denen ich Bereiche, die im Säuger gut definiert sind, im Fisch identifizieren kann. Dieses Projekt lief dann völlig aus dem Ruder. Jede Färbung half mir anatomische Homologien zwischen dem Zebrafisch und Säugern herzustellen, warf aber immer neue Fragen auf, die ich mit weiteren Färbungen versucht habe zu beantworten. Nach einigen Monaten hatte ich vermutlich über hundert solcher Färbungen, die ich wie ein Puzzle versucht habe zu einem großen Bild zusammenzusetzen. Als plötzlich alles Sinn gemacht hat und ich eine Art Landkarte für den Fisch-Hypothalamus in der Hand hatte, hab ich völlig verblüfft etwas realisiert: was ich gemacht hatte, war pure Neuroanatomie! Diese Hypothalamus-Landkarte wurde tatsächlich so umfangreich, dass ich daraus ein eigenständiges Paper gemacht habe. So sah das Puzzle dann am Ende aus, wobei all diese lustige Buchstaben für noch lustigere Namen stehen, die ich euch allerdings ersparen werde:

So bunt kann Neuroanatomie sein. Abbildung aus Schredelseker T and Driever W (2020) Conserved Genoarchitecture of the Basal Hypothalamus in Zebrafish Embryos. Front. Neuroanat. 14:3. CC BY 4.0.

Mit dieser anatomischen Referenz ausgerüstet, hatte ich nun Namen für alle Gebiete des Fisch-Hypothalamus und konnte daher die Gebiete beschreiben, in denen was falsch läuft, wenn Bsx fehlt. Denn tatsächlich hat sich bei meinem Stochern nach Bsx Funktionen einiges angehäuft. Die Vorläufer-Transkripte von etlichen verschiedenen Neuropeptiden in ganz verschiedenen Kerngebieten des Hypothalamus waren abhängig von Bsx.

Mit meiner selbst erstellten Hypothalamus-Landkarte ausgestattet, hatte ich endlich Namen um die Gebiete zu beschreiben, in denen ich Faktoren entdeckt hatte, die in Fischen ohne Bsx fehlten. Abbildung aus Schredelseker T, Veit F, Dorsky RI and Driever W (2020) Bsx Is Essential for Differentiation of Multiple Neuromodulatory Cell Populations in the Secondary Prosencephalon. Front. Neurosci. 14:525. CC BY 4.0.

Aber auch monoaminerge Neuronenpopulationen, zum Beispiel Serotonin oder Histamin ausschüttende Neuronen schienen betroffen zu sein, bzw. fehlten in den bsx mutanten Fischen. Auch Neuronen, die Stickoxid als Neurotransmitter nutzen, waren in ihrer Zahl stark reduziert. All dies habe ich dann im dritten und finalen Paper meiner Doktorarbeit zusammengefasst und mir endlich diesen traumhaften Doktorhut verdient!

Theresa with Doctor's Cap and Polar Bear. (c) Lars Nilse.
Ich mit Doktorhut und Eisbär. Foto von Lars Nilse.

Und damit hab ich hier die perfekte Stelle erreicht um Danke zu sagen! Danke an alle, die mich auf diesem Weg unterstützt haben! Meine Familie und Freunde, meine Laborkollegen, mein Chef und natürlich auch alle Leser dieses Blogs! Ihr seid super!

Theresa

Theresa ist die Person hinter diesem Blog und immer noch die Autorin aller Artikel. Sie hat in molekularer Neuroentwicklungsbiologie promoviert und ist durchaus offen für MitsteiterInnen für dieses Blogprojekt. Wenn ihr also Lust habt mitzuschreiben, meldet euch bei ihr.

Das könnte dich auch interessieren …

2 Antworten

  1. Alter_weißer_Mann sagt:

    So ein von den Laborkolleg:innen gestalteter Doktorhut ist doch was anderes als die amerikanischen Dinger aus dem Kostümverleih.

  2. Alter_weißer_Mann sagt:

    Und natürlich: Herzlichen Glückwunsch

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Cookies, um die Benutzerfreundlichkeit zu verbessern. Sie stimmen zu, indem Sie die Website weiter nutzen.

Datenschutzerklärung