UBE3A: wie Epigenetik die Natur einer Krankheit bestimmen kann
Die meisten LeserInnen haben es vermutlich in der Schule gelernt: wir tragen von jedem Gen zwei Kopien in uns. Mutationen in diesen Genen können eine Erkrankung hervorrufen. Dabei spricht man von einer rezessiven Mutation, wenn von Mutter und Vater eine solche Variante vererbt werden muss, also beide Kopien des Gens im Kind betroffen sein müssen, damit sich eine Krankheit manifestiert. Bei einer dominanten Variante hingegen reicht es, wenn entweder die Mutter oder der Vater eine solche Kopie vererbt, denn bereits eine einzige Kopie dieser Variante löst die Erkrankung aus. Ein Beispiel für eine verheerende Mutation mit dominanter Erbfolge ist Chorea Huntigton. Diese leider ausnahmslos tödlich verlaufende degenerative Erkrankung wird von einem betroffenen Elternteil mit 50% Wahrscheinlichkeit an das Kind vererbt. Dabei spielt es für den Verlauf der Erkrankung keine Rolle, ob die Variante von der Mutter oder vom Vater vererbt wurde, denn auf den sogenannten Autosomen (das sind alle Chromosomen außer den Geschlechtschromosomen X und Y) sind eigentlich beide Kopien der DNA-Abschnitte equivalent. Aber stimmt das wirklich immer? Nicht ganz! Und das ist einer von vielen Gründen, warum das Thema Epigenetik momentan so hoch im Kurs steht.
Abschnitte von Chromsomen können inaktiviert werden, einige wenige sogar spezifisch auf der mütterlichen oder väterlichen Kopie
Chromosomen sind chemisch hochkomplexe dreidimensionale Strukturen. Ein Chromosom besteht aus den DNA-Doppelsträngen, die um bestimmt Stützproteine gewickelt sind und mehrfach in sich gedrillt sind, wie ein altes Telefonkabel (siehe Bild links). So erstaunlich stabil diese Gebilde sind, unkaputtbar sind sie leider nicht. Dabei scheinen bestimmte Stellen anfälliger zu sein, wenn es um das Auftreten von Brüchen bzw. Deletionen (herausfallende und daher in Folge fehlende Abschnitte) geht. Eine vergleichsweise häufig auftretende Deletion betrifft den langen Arm des Chromosom 15 zwischen den Bändern 11 und 13 (15q11-q13). Kinder, die diese Deletion vererbt bekommen, sind in ihrer Entwicklung beeinträchtigt.
Soweit ist also alles noch wie bei etlichen anderen Chromsomenunregelmäßigkeiten auch. In Gegensatz zu anderen Deletionen hingegen, die schwere Erkrankungen auslösen können, kommt es bei der Deletion 15q11-13 allerdings darauf an, ob diese Deletion von der Mutter oder vom Vater vererbt wurde. Denn wenn diese Deletion auf der mütterlichen Kopie aufgetreten ist, zeigen betroffene Kinder üblicherweise bereits im Alter von etwa einem Jahr Symptome des Angelman-Syndroms. Erhält ein Kind eine väterliche Kopie des Chromosom 15 mit dieser Deletion, werden meist in etwas späteren Kindesalter die Symptome eines Prader-Willi-Syndroms erkennbar.
Wo liegen die Ursachen für diese ungewöhnliche Vererbungscharakteristik? Nun, der Bereich q11-q13 auf dem Chromosom 15 ist stark einem Prozess unterworfen, der sich genomische Prägung oder einfach imprinting nennt. Wir sollten uns unser Genom keinesfalls starr vorstellen; es handelt sich eben nicht nur um einen gespeicherten Text, der unveränderlich in unseren Zellkernen vorliegt. Im Laufe der Spezialisierung, die eine Zelle während der Embryonalentwicklung durchläfut, werden die meisten Bereich des Genoms stillgelegt. Eine Zelle in unserer Haut oder unserem Gehirn beispielsweise soll eben nicht das Insulin-Gen ablesen, deswegen wird der entsprechende Abschnitt auf der DNA chemisch so modifiziert, dass er inaktiv wird. Und genau das passiert an einigen Stellen im Genom spezifisch für die mütterliche oder die väterliche Kopie.
Welche Gene liegen im Abschnitt 15q11-13?
Über den „Grund“ für diese geschlechtsspezifische Stillegung von Genvarianten, können wir nur spekulieren, was ich in diesem Artikel gar nicht erst anfangen will. Lieber möchte ich einen Blick auf die Gene legen, die auf dem Abschnitt 15q11-13 liegen und die diesem imprinting unterworfen sind: da haben wir beispielsweise Necdin und SNRPN (small nuclear ribonucleoprotein polypeptide N). Von diesen beiden Gene werden in unseren Zellen immer die mütterlichen Kopien stillgelegt; nur die väterliche Kopie ist aktiv. Wenn die väterlichen Kopien dieser Gene aufgrund der Deletion fehlen, dann kann in diesem Fall also nicht die mütterliche Kopie für den Funktionsverlust kompensieren. Der Funktionverlust dieser beiden Gene trägtdann vermutlich maßgeblich zu den Krankheitssymptomen des Prader-Willi-Syndrom bei.
Von einem dritten Gen, das in diesem Abschnitt liegt, UBE3A (ubiquitin-protein ligase E3A), sind in den meisten unserer Zellen beide Kopien aktiv. In den Nervenzellen unseres Gehirns allerdings wird die väterliche Kopie stillgelegt, wodurch nur noch die mütterliche Kopie aktiv bleibt. Fehlt diese mütterliche Kopie, wie in Angelman-Syndrom Patienten mit mütterlicher 15q11-q13 Deletion, fehlt also auch die Funktion von UBE3A.
UBE3A ist eine ubiquitin-Ligase, das heißt sie knüpft kleine Markierungen (ubiquitin) an Proteine, die für den Abbau bestimmt sind. Eine ubiquitin-Ligase ist also so eine Art Aussortierapparat; denn wenn ein Protein solche Markierungen trägt, dann kommt es sprichwörtlich in die Tonne. Mit der Tonne ist in diesem Fall das Proteasom gemeint, ein hohler zylindrischer Komplex in der Zelle, in dem nicht mehr gebrauchte Proteine in ihre Bestandteile zerlegt werden um aus diesen wieder neue Proteine zu bauen. Wenn diese Aussortierung nicht richtig funktioniert, ist der gesamte Zellstoffwechsel gestört. Alte, nicht mehr richtig funktionierende Proteine sammeln sich an und werden letztlich toxisch für die Nervenzellen. Welche Proteine dies im Genauen sind, ist Gegenstand aktueller Forschung. Dabei erhofft man sich den Krankheitsmechanismus besser zu verstehen um besser gegen die Folgen des UBE3A Funktionsverlusts vorzugehen.
Parallel versuchen Forscher besser zu verstehen, wie die väterliche Kopie des UBE3A Gens im Gehirn stillgelegt wird. Das ungefähre Prinzip ist dabei schon länger bekannt. In dem Bereich rund um das UBE3A Gen wird eine lange nicht-codierende RNA (lncRNA) transkribiert, und zwar vom sogenannten Antisense Strang, also den Gegenstrang zum Sense Strang, von dem das UBE3A Gen abgelesen wird. Dieses Transkript nennt man daher LNCAT (large non-coding antisense transcript). Es umfasst nicht nur den Gegenstrang – quasi das Negativ – vom UBE3A-Gen, sondern auch die Negative von anderen benachbarten Genen. Und obwohl wir wissen, dass dieses LNCAT dafür verantwortlich ist, dass die väterliche Kopie des UBE3A-Gens im Gehirn stillgelegt wird, wissen wir leider immer noch nicht genau, wie es das anstellt.
Moderne Therapien setzen auf die Reaktivierung der väterlichen Kopie von UBE3A [UPDATE vom Februar 2021]
Ansätze um die Stillegung der intakten väterlichen Kopie rückgängig zu machen, das Gen also zu reaktivieren, stecken noch in den Kinderschuhen. Es liegt Nahe, die Funktion von LNCAT hemmen zu versuchen um die kontinuierlich erfolgende Stilllegung des väterlichen UBE3A zu stören. Genau dies versuchen die Firmen GeneTx und Ultragenix mit sogenannten Antisense Oligonukleotiden zu erreichen. GTX-102 ist so ein Oligonukleotid, dass komplementär zu dem Abschnitt von LNCAT ist, auf dem der Gegenstrang von UBE3A codiert ist. Präklinische Studien haben bestätigt, dass GTX-102 in der Lage ist, die Stillegung des väterlichen UBE3A zu hemmen und Proteinexpression vom väterlichen UBE3A Gen zu reaktivieren. Eine erste klinische Studie aus dem Jahr 2020 zeigte dann, dass etliche Symptome des Angelman-Syndroms nach der Behandlung mit GTX-102 besser wurden. Allerdings zeigten einige Patienten nach der Gabe von hohen Dosen auch Muskelschwäche. Auch wenn diese Muskelschwäche nur temporär auftrat und vollständig reversibel war, muss nun erstmal den Ursachen dafür auf den Grund gegangen werden. Es bleibt also spannend auf dem Gebiet der gezielten Therapien für seltene genetische Erkrankungen.