Die CLN Gene – wenn Kinder an Demenz erkranken

Bei Demenz – dem fortschreitenden Verlust von Nervenzellen und damit auch von kognitiven Leistungen – denken die meisten sofort an ältere Menschen, vielleicht ihre Großeltern. Nicht vielen Menschen ist bekannt, dass Demenz auch die Jüngsten treffen kann. Die Diagnose „Kinderdemenz“, engl. Batten disease, oder Neuronale Ceroid-Lipofuszinose, kurz NCL, bedeutet einen schweren Schock für etwa 15 – 20 Elternpaare pro Jahr in Deutschland. Der Krankheitsverlauf ist schwer zu akzeptieren; er führt meist über Erblindung und fortschreitendem Verlust von motorischen und kognitiven Funktionen zum Tod im frühen Erwachsenenalter.

Der Krankheit zugrunde liegen Mutationen in einem der CLN Gene, die von CLN1 bis CLN14 durchnummeriert werden. Die Proteine, die von diesen Genen codiert werden, haben alle in irgendeiner Form mit einem wichtigen Bestandteil aller unserer Zellen zu tun, dem Lysosom. Denn NCL gehört zu einer besonderen Untergruppe der seltenen genetischen Erkrankungen, den Lysosomalen Speicherkrankheiten. Eine Heilung dafür gibt es nicht, aber neue Therapieansätze lassen vorsichtig Hoffnung aufkommen.

Das Lysosom und Lysosomale Speicherkrankheiten

Um zu verstehen, warum NCL so gravierende Symptome hervorruft, sollte man sich zunächst die normale Funktion der Lysosomen ansehen. Im Wesentlichen sind die Lysosomen die Müllschlucker unserer Zellen; oder besser: die Recyclinganlagen. Hier werden die Stoffe, die aktuell von der Zelle nicht gebraucht werden, in ihre Einzelteile zerlegt, aus denen dann wieder andere Stoffe aufgebaut werden können. Wenn die Lysosomen also in ihrer Funktion gestört sind, dann häuft sich immer mehr „Müll“ in den Zellen an. Auf Dauer schädigt das die Zellen so sehr, dass sie absterben. Da für die Funktion des Lysosoms nicht nur eines, sondern viele Proteine wichtig sind, können Mutationen in verschiedensten Genen zu einer Lysosomalen Speicherkrankheit führen. Die Proteine sind dabei in den Lysosomen der verschiedenen Geweben unseres Körpers unterschiedlich verteilt, sodass je nachdem welches Gen eine Mutation trägt, die verschiedenen Gewebe unterschiedlich stark betroffen sind.

Die CLN Gene und ihre Produkte

Auch wenn die NCL Erkrankungen bereits im 19. Jahrhundert erstmalig beschrieben wurden, dauerte es bis 1995, als ein erstes NCL-Gen, CLN1, und noch im gleichen Jahr ein zweites NCL-Gen, CLN3, identifiziert wurden. Zwei Jahre später, 1997, folgte das CLN2 Gen. Mutationen in einem dieser drei Gene sind die häufigsten Ursachen für NCL-Erkrankung. Die Analyse ihrer spezifischen Funktionen hilft dabei, Charakteristika der verschiedenen NCL-Formen aufzuzeigen, sowie um einige Schwierigkeiten in der NCL-Forschung zu erklären.

Das CLN1 Gen stellt den Bauplan für ein Enzym dar, das man Palmitoyl Protein Thioesterase 1 nennt, kurz PPT1. Die Endung –ase, so hat es mein Zellbiologie Professor im Grundstudium mal gesagt, deutet meist auf ein „hässliches Enzym hin, das irgendwas kaputt macht“. PPT1 spaltet langkettige Fettsäuren ab, die an manchen Proteinen dranhängen. Auch CLN2 codiert ein lösliches Enzym, das zur allgemeinen Verwirrung auch noch eine ähnliche Abkürzung trägt: TPP1, Tripeptidyl Peptidase 1. TPP1 spaltet Proteine in kleine Teile. Der wichtigste Arbeitsplatz von PPT1 und TPP1 ist – ihr habt es erahnt – das Lysosom. Aber nicht alle NCL Gene schwimmen im Lysosom herum, andere sitzen auch an seiner Oberfläche, in der Membran des Lysosoms, so zum Beispiel CLN3. Welche Rolle das gesunde CLN3 Protein genau in der Lysosomenmembran spielt, ist bis heute nicht ganz geklärt.

Symptome, Diagnose und Prognose

Das Alter in dem Kinder erstmals Symptome zeigen, variiert zwischen den verschiedenen Formen der Kinderdemenz. Die meisten Patienten mit CLN1 Mutationen entwickeln bereits im ersten Lebensjahr Symptome: oftmals lernen Sie nie richtig stehen, laufen oder sprechen. Viele von ihnen entwickeln Epilepsie und versterben bereits in ihrer frühen Kindheit. Kinder mit CLN2 Mutationen lernen meist laufen und sprechen, womit Sie aber oft im Alter von 3-4 Jahren zunehmend Schwierigkeiten haben und bald auf intensive Pflege angewiesen sind. Sie versterben meist zwischen 6 und 12 Jahren. Die CLN3 Krankheit maniferstiert sich meist durch progressive Blindheit, die im Alter von etwa 4-7 Jahren einsetzt. Betroffene Kinder entwickeln zunehmend Lernschwierigkeiten und verlieren ihre motorischen und sprachlichen Fähigkeiten. Sie versterben meist im jungen Erwachsenenalter. Andere Formen der Krankheit, die beispielsweise auf sehr seltene Mutationen im CLN4 oder CLN6 Gen zurückzuführen sind, zeigen sich erst im Erwachsenenalter.

Meist sind es jedoch Kinder die betroffen sind und deren Eltern konsultieren meist etliche Ärtzte, bevor eine genetische Diagnose für diese seltene Erkrankung vorliegt. Diese stellt aufgrund der Aussicht auf den erbarmungslosen Verlust von Fähigkeiten und den unvermeidlichen tödlichen Ausgang einen immensen Schock dar. Kein Wunder, dass Eltern alles versuchen um ihren betroffenen Kindern zu helfen. Aber gibt es Hoffnung darauf, den Verlauf der Erkrankung zu bremsen oder gar aufzuhalten?

Enzymersatztherapie für die CLN2-Form

Für die CLN2 Form gibt es seit 2017 eine zugelassene Therapie; die erste die die Krankheit an sich behandelt und nicht nur Symptome lindert. Dabei handelt es sich um eine sogenannte Enzymersatztherapie, das heißt betroffenen Kindern wird ein Enzym verabreicht, dass die fehlende Funktion des TPP1 Enzyms übernimmt. Die rekombinant hergestellte Vorstufe zum aktiven Enzym, Cerliponase Alfa, wird von der Firm BioMarin unter dem Handelsnamen Brineura vertrieben. Es wird alle zwei Wochen durch einen Katheter direkt in den Ventrikel des Gehirns verabreicht. Trotz Zulassung durch EU Behörden ist es in einigen europäischen Ländern allerdings immer noch schwierig eine derartige Therapie zu bekommen, was nicht zuletzt an den Kosten von über 500.000,- Euro pro Jahr liegen dürfte. Die ersten Ergebnisse aus den laufenden Behandlungen deuten darauf hin, dass sich der Krankheitsverlauf durch die Cerliponase Alfa Verabreichung erheblich einbremsen lässt. Längerfristige Wirkungen der Therapie werden wir allerdings erst in einigen Jahren beurteilen können.

Gentherapien mit AAVs

Als Erkrankungen, die auf Mutationen in einzelnen Genen zurückzuführen sind, repräsentieren die Kinderdemenz Formen Paradekandidaten für den Einsatz von Gentherapien. Klassische Formen der Gentherapie beruhen darauf, dem Patienten die „gesunde“ Kopie desjenigen Gens zu geben, welches in mutierter Form die Krankheit verursacht. Eines der großen Probleme bei Gentherapien ist das delivery: wie bekommt man das Gen in die Zellen eingeschleust? Meist verwendet man dafür Viren, klassischerweise Retroviren. Wenn man Retroviren mit dem gewünschten Gen ausstattet und Zellen damit infizieren lässt, dann wird dieses Gen relativ zufällig irgendwo in das Genom der Wirtszelle integriert. Das allerdings stellt ein Risiko dar: das Gen kann durch die Integration in kritische Bereiche des Genoms Schaden anrichten. Im schlimmsten Falle kann diese Zelle dadurch außer Kontrolle geraten und einen Tumor bilden. Daher setzt man in letzter Zeit gerne sogenannte Adeno-assoziierte Viren, oder AAVs ein. AAVs haben die Besonderheit, dass sie – wenn Sie in das Genom integrieren –  dies immer an einer bestimmten Stelle tun; sie sind also sehr viel besser berechenbar. Noch besser: meistens integrieren die AAVs ihr Erbgut aber überhaupt nicht ins Genom; sie bringen es in die Zelle ein und dort liegt es einfach neben den anderen Chromosomen herum; man spricht dann von einem Episom. AAVs kann man nur mit einem DNA Fragment von bis zu 4.700 Basenpaaren bestücken. Für einige der CLN-Gene reicht dies aber aus und so laufen zur Zeit für etliche der CLN Gene präklinische und klinische Studien, in denen die Wirksamkeit und Sicherheit von Gentherapien ermittelt wird.

Der Hollywood-Regisseur Gordon Gray und seine Frau beispielsweise haben gleich zwei Töchter, die Mutationen in beiden Kopien des CLN6 Gens tragen. Als die Krankheit bei der damals 4-jährigen Charlotte Gray diagnostiziert wurde, zeigte ihre 2 Jahre jüngere Schwester Gwenyth noch keinerlei Symptome. Nach einer erstaunlich rasanten Entwicklung, die die Eltern der beiden mit viel Engagement und Geld initiiert hatten, wurden beide Schwestern ein Jahr nach der Diagnose, 2016, im Rahmen einer klinischen Studie mit einer AAV-basierten CLN6 Gentherapie behandelt. Charlotte hatte bis dahin schon viel ihrer motorischen und kognitiven Fähigkeiten eingebüßt, die sich leider nicht wieder herstellen lassen. Dennoch bleibt es spannend wie die Therapie den Krankheitsverlauf der anderen Teilnehmer und vor allem auch den der jüngeren Schwester beeinflussen wird.

Antisense Oligonukleotide als neue pharmakologische Wirkstoffe

Ein relativ junger Ansatz verfolgt eine anderen Strategie als klassische Gentherapien. Für einige der CLN Formen ist es möglich in den Splicevorgang einzugreifen um Teile der normalen Genfunktion wiederherzustellen. Zur Erinnerung: beim Splicen werden von einer primären RNA-Abschrift des Gens, die sogenannten Introns entfernt, wodurch nur noch die aneinandergereihten Exons übrig bleiben (siehe dazu auch meinen Artikel zu ARHGAP11B). Die am häufigsten festgestellte Mutation, die der CLN3 Form der Kinderdemenz zugrunde liegt, beruht auf einer Deletion, die die beiden Exons 7 und 8 umfasst. Der Verlust dieser beiden Exons alleine wäre vermutlich nicht so schlimm, aber dadurch, dass Exon 6 in diesem Fall an Exon 9 gereiht wird entsteht ein frameshift. Das heißt, dass das Leseraster, dass sich dadurch ergibt, dass alle Gene in Triplets codiert sind, verschoben wird.

Mögliche Wirkungsweise der angedachten Antisense Oligonukleotid Therapie bei CLN3 Patienten mit ΔExon7/8 Mutation.

Dies führt zunächst zu einem kurzen missense, also quasi unsinnigen, Code auf Exon 9 (orange in der Abbildung), der dann relativ schnell zu einem STOP Codon führt. Alle dahinter befindlichen Abschnitte des Gens werden also nicht mehr in Protein übersetzt (rot in der Abbildung). Wenn man in die Zellen allerdings ein kurzes Stückchen Nukleinsäure (lila in der Abbildung) einbringt, dass komplementär zu einer Splicestelle des Exon 5 ist und sich daher dort anlagert, dann wird die Splicestelle des Exon 5 blockiert. Exon 5 wird daher zusammen mit den Introns rausgeschnitten und das Exon 4 wird direkt an Exon 6 gesplict. Dadurch verliert man nicht nur das was auf Exon 5 codiert war, sondern man verschiebt auch das Leseraster, sodass das Exon 6 „unsinnig“ wird. Das Leseraster, welches im Exon 4 Sinn ergibt, ist das aber das gleiche wie jenes, dass auf Exon 9 Sinn ergibt. Somit gewinnt man durch diese Intervention die Genfunktion von Exon 9 und allen nachfolgenden Exons zurück. Das resultierende Protein ist zwar nicht identisch mit dem normalen CLN3 Protein, aber es ist viel funktionsfähiger als das stark verkürzte Proteinprodukt des mutierten CLN3 Gens. Denn auch wenn man immer noch nicht genau weiß, welche Rolle CLN3 spielt, kennt man zwei sogenannte lysosomal targeting sequences (LTS) auf Exon 9 und Exon 15, ohne die CLN3 gar nicht richtig an seinen Einsatzort transportiert wird. Die prinzipielle Wirksamkeit dieser Behandlung hat kürzlich in einer präklinischen Studie an Mäusen vielversprechende Wirkung gezeigt und den Krankheitsverlauf eingebremst.

Aber ist ein solcher Ansatz auch für die Behandlung von Patienten geeignet? Wie ein Aufsehen erregender Fall gezeigt hat, wird es bereits versucht. Hier ging es aber nicht um die Behandlung der CLN3 Form sondern um eine weltweit einzigartige Mutation des CLN7 Gens. Die kleine Mila hat von beiden ihrer Eltern Mutationen im CLN7 vererbt bekommen, die sich aber voneinander unterscheiden. Die Mutation, die die Mutter vererbt hat, ist eine davor noch niemals beschriebene Insertion, die durch ein Transposon verursacht wurde. Dieses Transposon brachte eine eigene Splicestelle mit sich und hatte sich hinter dem Exon 6 des CLN7 Gens integriert. Dadurch wird das Exon 6 nicht an Exon 7 gesplict sondern an die Transposonintegration, wodurch schnell ein STOP Codon auftaucht. Wenn man also diese Splicestelle des Transposons blockieren könnte, dann würde wieder die des Exon 7 verwendet und die Genfunktion wäre komplett wiederhergestellt. Also wurde für genau diese Transposon-Splicestelle ein Antisense Nukleotid entworfen, getestet, hergestellt, im Eilverfahren für diesen experimentellen Gebrauch zugelassen und der kleinen Mila direkt ins Gehirn verabreicht. Diese Therapie wurde also für einen einzelnen Menschen entwickelt; nach Stand der Medizin heute gibt es keinen anderen menschen auf der Welt, der von genau diesem Oligonukleotid profitieren könnte. Bei Mila hingegen hat es zumindest zu einer Reduktion von epileptischen Anfällen geführt, die ihre Krankheit mit sich brachte. Das Medikament bekam den namen milasen.

Da solch neuartige Ansätze noch sehr experimentell und risikobehaftet sind, sollten sie zunächst nur in Fällen eingesetzt werden, wo die Prognose sehr schlecht ist und keine anderen Therapien zur Verfügung stehen. Sie zeigen aber, wo sich – nach Einschätzung vieler Fachleute – das Feld hinbewegen könnte: zur „personalisierten Medizin“. Darunter versteht man die Vision, dass Behandlungen in der Zukunft zunehmend genau auf die individuelle Krankheitssituation des Patienten zugeschnitten werden könnten. Gerade Patienten, die an seltenen genetischen Erkrankungen, wie beispielsweise der Kinderdemenz leiden, könnten in Zukunft von diesen Entwicklungen profitieren.

Hamburg als Zentrum für Kinderdemenz

Wer mich auch über meinen Blog hinaus kennt, weiß es mittlerweile: Ich bin in diesem Herbst nach Hamburg gezogen! Und ehrlich gesagt habe ich von Kinderdemenz erst erfahren, als ich mich mit Hamburg als Wissenschaftsstandort auseinandergesetzt habe. Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, finden deutschlandweit nur hier die Enzymersatztherapien statt, das heißt dass etliche Kinder, die an der CLN2 Form der Erkrankung leiden, alle zwei Wochen ans Universitätsklinkum Eppendorf, kurz UKE, reisen. In Hamburg hat auch die NCL-Stiftung ihren Sitz, die Gelder für die Forschung an Kinderdemenz einwirbt und die Krankheit in das Bewusstsein der Öffentlichkeit trägt. Wenn ihr also mehr über Kinderdemenz erfahren oder selbst aktiv werden wollt, dann schaut euch mal auf der Homepage der NCL-Stiftung um.

Theresa

Theresa ist die Person hinter diesem Blog und immer noch die Autorin aller Artikel. Sie hat in molekularer Neuroentwicklungsbiologie promoviert und ist durchaus offen für MitsteiterInnen für dieses Blogprojekt. Wenn ihr also Lust habt mitzuschreiben, meldet euch bei ihr.

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Eine Antwort

  1. Araz sagt:

    Hallo,
    wurde auffälliger Befund im Gen von unserem Sohn MFSD8 gefunden. . .
    Ich möchte Mal fragen,ob man es auch als NCL nennt oder wie es von NCL Krankheit Nähe ist.
    Ich freue mich sehr auf ihre Antwort.
    Danke im voraus.
    Schöne Grüße

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